Den Wind als Motor und trotzdem schneller?
Das klingt wie eine Division durch null: unmöglich. Eine Floß kann ja auch nicht schneller als der Fluss schwimmen!
Es funktioniert und die Antwort klingt verrückt:
Das Boot segelt sich selbst.

Ein Boot kann schneller als der Wind segeln, weil es am Segel zusätzlichen Auftrieb durch den eigenen Fahrtwind generiert. Somit wird unter stärkerem Wind gesegelt, als tatsächlich vorherrscht. Dieser scheinbare Wind kann das Boot weiter beschleunigen.
Bis wir abheben? Ich muss dich enttäuschen.
Segeln lebt von Effizienz. Kleine Fehler und schon gewinnt der Wasser- oder Luftwiderstand. Nein, wer schneller als der Wind segeln will, kann sich das nicht leisten. Also lass uns die speziellen Voraussetzungen finden und drei Fragen klären:
- Wie stehle ich dem Wind Energie?
- Woher kommt die zusätzliche Energie?
- Warum segeln wir im scheinbaren Wind?
So fühlt sich schneller als der Wind an
- Lass uns am Halbwind-Kurs segeln. Wir fühlen den Wind seitlich, am Ohr.
- Wow, wir gewinnen Fahrt. Spürst du den Wind nun weiter vorne, an der Wange? Wir müssen die Segel dichter ans Boot holen!
- Wieder schneller! Das gibt gleich noch mehr Fahrtwind von vorne. Segel dichter holen!
- Schneller? Dichter!
- Unser Kompass-Kurs blieb gleich, allerdings segeln wir mittlerweile hoch am scheinbaren Wind.
- Dieses Spielchen könnten wir in einer perfekten Welt ewig fortsetzen. Aber sie ist nicht perfekt, denn es gibt Leute, die mit offenem Mund Kaugummi kauen.

Wie stehle ich dem Wind Energie?
Das einzige, das uns Energie beim Segeln gibt, ist nun mal – Überraschung – der Wind im Segel. Jeder hat eine intuitive Vorstellung, wie das funktioniert. Ich nenne es:
Die Wikinger-Methode
- Wir fangen den Wind mit den Segeln ein.

Von hinten strömt er über das Boot und bläst das quer stehende Segel auf. Das Boot lässt sich einfach vom Wind mitreißen. Irgendwann ist es höchstens so schnell wie der Wind.
Wie denn auch schneller? Wenn du einen Einkaufswagen schiebst, wird er nicht plötzlich davon fahren. Das sahen die Wikinger gleich. Ihnen fehlte jedoch eine besondere Technik:
Die Flugzeug-Methode
- Wir führen den Wind kurvig um die Segel.

Ein Flugzeug kann fliegen, weil es die Flügel leicht aufstellt und den Fahrtwind dadurch kurvig um die Flügel nach unten biegt. Genau so entsteht Auftrieb, der sogar eine riesige Metallkiste in der Luft hält.
Das können auch unsere Segel. Wir brauchen sie nicht quer zum Wind, sondern mit der Kante voraus im Wind wie ein Flügel. Es reicht ein gewisser Anstellwinkel und schon fliegen wir. Der Auftrieb ist bei uns eben ein „Vortrieb“.
Die Kurse zum Wind
Sieh dir das grafisch an. Die Wikinger-Methode nutzen wir hauptsächlich in der unteren blauen Zone, die Flugzeug-Methode hauptsächlich in der oberen gelben Zone. Der Wind kommt von oben.

Die zusätzliche Energie bekommen wir also nur von der Flugzeug-Methode und ja, die funktioniert gegen den Wind!

Zur Wikinger- und Flugzeug-Methode habe ich einen ganzen Artikel. Hier zeige ich genau, wie wir gegen den Wind segeln können.
Wahrer, Fahrt- und scheinbarer Wind erklärt
Wir können die Physik nicht brechen, nur mit ihr arbeiten. Wenn wir schneller als der Wind segeln, meinen wir damit den wahren Wind und segeln tatsächlich im scheinbaren Wind.
1. Der wahre Wind
Das ist der Wind, den uns Mutter Natur schenkt. Es ist der brauche-ich-heute-eine-Jacke-Wind.
Stellst du eine Flagge an Land auf, zeigt sie dir diese wahre Windrichtung. Am Boot ist das schwieriger, da sich der wahre Wind mit unserer Fahrtgeschwindigkeit vermischt. Du kannst den wahren Wind anhand der Wellenberge einschätzen. In offenen Gewässern wandern sie parallel.
Moderne Windmessanlagen bestimmen den wahren Wind über GPS, indem sie den Kurs über Grund sowie die Bootsgeschwindigkeit gegenrechnen.
2. Der Fahrtwind
Genauso logisch. Der Fahrtwind ist der Gegenwind, der durch die eigene Bewegung erzeugt wird. Er strömt exakt vom Bug zum Heck und ist genauso schnell wie du. Nur eben um 180° verschoben.
3. Der scheinbare Wind
Egal ob Mutter Natur die Luft über das Wasser zieht, oder der eigene Fahrtwind einströmt. Schlussendlich zählt doch nur, was die Segel tatsächlich spüren. Stimmt’s?
Das ist der sogenannte scheinbare Wind. Du spürst ihn, wenn du die Fingerspitze (mit deiner Methode der Wahl) befeuchtest. Gesegelt wird immer nach diesem scheinbaren Wind.
- Scheinbarer Wind = Wahrer Wind + Fahrtwind
Jetzt könnte man meinen, 10 Knoten wahrer Wind und 5 Knoten Fahrtwind ergeben 15 Knoten scheinbaren Wind. So einfach ist es dann doch nicht. Wir müssen die Winde vektoriell addieren:
Raumwindkurs und der scheinbare Wind
Dieser Denkfehler fällt sofort beim Vorwindkurs auf (exakt mit dem Wind). Die 10 Knoten wahrer Wind pusten über das Heck zum Bug und die 5 Knoten Fahrtwind pusten zurück. An Bord spüren wir die Kombination. „Scheinbar“ nur 5 Knoten.

Dieser scheinbare Wind gab mir mal eine Schrecksekunde. Wir segelten im raumen Wind, wobei wir schon fast in unsere eigenen Segel hätten pusten müssen.
Ich warf zwei lange Leinen ins Meer und zog die überhitzte Crew hinter mir her. Mit einem breiten Grinsen blickte ich über meine Schulter und gab kurz Motor-Schub. Plob, plob, plob … und plob.
Doch mein Grinsen verpuffte sofort. PATENTHALSE! Der Baum schlägt über! Worst-Case-Szenario! Das sahen jedenfalls meine aufgerissenen Augen.
Du kannst es dir schon denken. Es war keine Patenthalse, bloß der scheinbare Wind. Ich hatte so viel Fahrt angesammelt und „segelte“ nicht mehr Raumwind, sondern Amwind. Die Segel drückte es nach hinten.
Ich bekam die Erinnerung: Wir segeln immer im scheinbaren Wind.
Amwindkurs und der scheinbare Wind
Beim Amwindkurs kommt sowohl der wahre Wind als auch der Fahrtwind von vorne. Das addiert sich! An Deck spüren wir die Mischung, die sich viel stärker anfühlt.

Von diesem stärkeren Wind profitieren unsere Segel. Genau hier liegt auch das Geheimnis. Wir stehlen die zusätzliche Energie nicht vom wahren Wind, sondern vom größeren scheinbaren Wind.
Endlich: Schneller als der Wind segeln
Wir können theoretisch jeden Start-Kurs wählen (außer exakt Vorwind). Es funktioniert jedenfalls prima beim Halbwindkurs. Für die zusätzliche Energie brauchen wir schlussendlich den Amwindkurs, die Flugzeug-Methode.
Wir bleiben also am „wahren“ Kurs, aber segeln im „scheinbaren“ Amwindkurs.
Anfangs zieht der Halbwind mit 10 wahren Knoten an den Segeln. Das Boot startet langsam los: 1 Knoten. Wir werden schneller: 2 Knoten. Mehr und mehr Fahrtwind strömt ein: 3 Knoten.

Nun fällt es auf. Unser GPS-Kurs blieb zwar gleich, doch der Wind scheint von immer weiter vorne zu kommen und stärker zu werden. Wir haben inzwischen 5 Knoten Fahrt und der Windmesser zeigt nicht mehr 10, sondern satte 14,2 Knoten an. Nutzen wir sie!
Unsere Segel müssen wir für diese neue Windrichtung und -stärke anpassen, damit sie optimal umströmt bleiben. Da der Wind nach vorne wandert, holen wir die Segel dichter ans Boot. Wir brauchen weiterhin eine saubere Anströmkante. (Zurück zum Bild der Windkurse)
Die Optimierung der Segel gibt uns gleich nochmal mehr Speed. Dieses Spielchen wiederholt sich, bis wir abheben!
Nein, natürlich nicht. Leider machen uns zwei Aspekte einen tiefroten Strich durch die Rechnung.
- Strömungswiderstand
- Rumpfgeschwindigkeit
Die versprochene Enttäuschung
Unsere typischen Verdränger-Boote sind schwimmende Badewannen. Wir werden immer bremsende Strömungsverluste im Wasser zurücklassen. Auch die Segel sind nicht zu 100 % effizient. Auftrieb ist stets mit hohen Verlusten verbunden.
Obendrein kann ein Verdränger niemals schneller als seine Rumpfgeschwindigkeit sein (so ca. 7–9 Knoten). Dazu habe ich einen Artikel.
Schneller als der Wind zu segeln funktioniert nur für Windsurfer, Eissegler oder Wettkampfsegler mit Hydrofoils. Bevor du verärgert meine Seite schließt, gebe ich dir eine gute Nachricht.
Schneller als der Wind bei Leichtwind
Unter gewissen Umständen kann auch ein Verdränger schneller als der Wind segeln. Wie?
Während einer Brise ist es gut möglich. Du könntest aus 5 Knoten Wind vielleicht 6 Knoten Fahrt gewinnen! Rekorde sind das noch keine, aber du bist dennoch schneller als der Wind und darfst dir fröhliche Sticker ins Logbuch kleben.
Diese Technik kannst du natürlich auch bei starkem Wind einsetzen. Wenn du damit über die Rumpfgeschwindigkeit kommst, schreib mir. Da lässt sich sicher Geld machen.
Scheinbarer Wind ist tückisch
Laues Lüftchen an Bord, kaum Krängung und gemütlicher Seegang. Beim Raumwind könntest du Stift und Papier zücken und die Vektoren aufzeichnen.
Wechselst du auf den Amwindkurs, fliegen dir deine liebevollen Zeichnungen um die Ohren, während die Stifte in die See rollen. Der Sturm drückt die viel zu großen Segel nieder und du wunderst dich über den plötzlichen Zorn der Götter.
Zwei Effekte sind schuld: Wo der Fahrtwind den wahren Wind noch geschmälert hat, addiert er sich nun hinzu. Ein doppelt so langer Pfeil sieht vielleicht harmlos aus, die Segelkräfte wachsen jedoch quadratisch! Aus ein paar Knoten mehr entwickeln sich gigantische Kräfte.

Du hast nun alle Voraussetzungen, wenn du die folgende Frage beantworten kannst:
Warum raumt der Wind während einer Böe?
Eine Böe verstärkt kurzzeitig den wahren Wind. Mehr Fahrt gewinnen wir im ersten Moment nicht: Der Fahrtwind bleibt somit gleich. Die Böe dominiert allerdings und so scheint der Wind eher aus dieser wahren Richtung zu kommen. Er raumt, wandert also ein paar Grad achtern.

Zusammenfassend
Unsere Segel nutzen immer nur einen kleinen Teil der gewaltigen Windenergie. Jetzt kennst du die Methode, um ein bisschen mehr herauszukitzeln. Ganz ohne dunkle Magie.
Schneller als der wahre Wind zu segeln, klappt durch den scheinbaren Amwindkurs. Hier verstärkt der Fahrtwind die Umströmung der Segelflächen und damit ihre Kraft.
Mehr Segelkraft bedeutet mehr Geschwindigkeit. Der scheinbare Wind verstärkt sich weiter und wandert Knoten für Knoten nach vorne.
Scheinbarer Wind ist Segelwind.
Das Limit
Du hast dein Limit erreicht, wenn du die dicht geholten Segel nicht erneut trimmen musst. Warum? Na ja, der scheinbare Wind verändert sich offensichtlich nicht mehr – somit auch nicht dein Fahrtwind.
Das verwandelt keinen Verdränger in ein Speedboot. Doch während andere im leisen Wind dümpeln und das Wetter beschimpfen, beschleunigst du an die Grenzen der Physik.
Diese Challenge gibt mir persönlich den Kick. Ein Törn, bei dem man Grenzen testet, ist ein guter Törn.